«Für den Erhalt der Biodiversität sind urbane wie ländliche Räume in der Verantwortung»
Der Zustand der Biodiversität in der Schweiz sei besorgniserregend – darüber herrsche in der Wissenschaft breiter Konsens, sagt Ursina Wiedmer. „Rund die Hälfte der Lebensraum-Typen und ein Drittel der Arten sind bedroht, und der Verlust der Biodiversität schreitet insgesamt weiter voran.“ Damit seien auch wichtige Leistungen der Natur gefährdet – etwa Bestäubung, natürliche Schädlingsbekämpfung oder der Wasserrückhalt in Feuchtgebieten. Wir haben bei Ursina Wiedmer, Leiterin der Fachstelle Naturschutz und stellvertretende Amtschefin im Amt für Landschaft und Natur des Kantons Zürich, genauer nachgefragt.
Gibt es Unterschiede zwischen urbanem und ländlichem Raum in Bezug auf den Zustand der Biodiversität?
Das Siedlungsgebiet wurde geschaffen, um menschliche Tätigkeiten dort zu konzentrieren und die Landschaft zu schonen. Damit geht einher, dass die Biodiversität im Siedlungsgebiet nicht die gleiche ist wie ausserhalb. Gewisse Arten kommen im Siedlungsgebiet in hoher Zahl vor. Das sind aber vor allem sogenannte Generalisten und Arten, die weniger Fläche brauchen und nicht empfindlich reagieren auf Störungen wie Licht oder Lärm – z.B. die Amsel oder das Grüne Heupferd, eine grosse Heuschreckenart. Anspruchsvollere, spezialisierte Arten und Lebensräume wie Feuchtgebiete, die für das Funktionieren der Natur als Gesamtsystem wichtig sind, gibt es im Siedlungsgebiet nicht. Für den Erhalt der Biodiversität sind deshalb urbane wie ländliche Räume in der Verantwortung, und beide haben noch Luft nach oben.
Welche Erwartungen stellen Sie an die Landwirtschaft im Bereich Biodiversität?
Der Auftrag der Gesellschaft an die Landwirtschaft ist in der Bundesverfassung beschrieben. Er umfasst neben der Versorgungssicherheit auch die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, also der Natur. Dafür leistet die Landwirtschaft bereits Vieles, und das verdient Anerkennung. Gerade bei der Biodiversität reichen die bisherigen Anstrengungen allerdings noch nicht aus – wir konnten den Verlust von Arten und Lebensräumen noch nicht stoppen. Damit wir das erreichen, ist aber nicht nur die Landwirtschaft, sondern die ganze Gesellschaft gefordert – wir alle beispielsweise als Konsumentinnen und Konsumenten.
Was für staatliche Instrumente gibt es, um die Biodiversität im ländlichen Raum zu fördern?
Damit das Netzwerk der Natur funktioniert, sind starke Knoten zentral. Deshalb brauchen die Hotspots der Biodiversität, die Naturschutzgebiete, einen grundeigentümerverbindlichen, langfristigen Schutz und Pufferzonen drumherum. Zusätzlich gibt es die landwirtschaftlichen Instrumente im Rahmen des Ökologischen Leistungsnachweises (ÖLN) und der Direktzahlungsverordnung (DZV): Biodiversitätsförderflächen (BFF) und Vernetzungsprojekte, die Naturgebiete verbinden. Es ist eine Stärke, dass es beides gibt: Einerseits Naturschutzinstrumente für standortgebundene Lebensräume, die lange brauchen, um sich zu entwickeln, wie etwa Moore oder Magerwiesen; andererseits landwirtschaftliche Massnahmen für weniger standortgebundene Lebensräume wie artenreiche Fettwiesen und Ackerbiotope.
Die Biodiversitätsförderflächen (BFF) sind heute auf nahezu jedem Betrieb anzutreffen. Oft werden diese aber kritisiert, eine nicht ausreichende Qualität der Biodiversität zu haben. Warum ist das so?
Die Entwicklung seit der Einführung der BFF ist erfreulich – die Landwirtinnen und Landwirte haben da bereits viel geleistet, v.a. bezüglich Flächen. Dass das noch nicht reicht, um die Biodiversität im Landwirtschaftsgebiet zu erhalten, hat verschiedene Gründe. Zum einen hat die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion in der Vergangenheit das natürliche Nährstoffniveau tiefgreifend verändert. Die Wiederherstellung artenreicher Lebensräume dauert deshalb sehr lang, und Extensivierung allein reicht oft nicht aus. So ist die Artenvielfalt auf BFF zwar höher als auf anderen Wiesen und Weiden, aber immer noch deutlich tiefer als auf ökologisch hochwertigen Magerwiesen. Gefährdete Arten profitieren darum wenig oder kaum von BFF. Zum andern sind BFF zum Teil nicht an ökologisch geeigneten Lagen, wenn für den Landwirt oder die Landwirtin eher betriebliche Überlegungen im Vordergrund stehen. Und vor allem wäre die Wiederherstellung von Feuchtgebieten sehr wichtig, denn sie sind für die Artenvielfalt, aber auch für den Hochwasserrückhalt zentral. Das wurde aber bisher trotz BFF praktisch nicht umgesetzt. Damit wir den Verlust der Biodiversität stoppen können, braucht die Natur mehr Raum, insbesondere hochwertige Flächen wie Moore und Magerwiesen – und das rasch (siehe Kasten).
Wie ist das System der Vergütung für Biodiversitätsförderflächen organisiert?
Die Entschädigung von BFF richtet sich nach der Direktzahlungsverordnung (DZV) des Bundes. Es gibt zwei Qualitätsstufen, was qualitative Anreize setzt. Die Vernetzungsbeiträge setzen auch einen mehr oder weniger starken Anreiz für geeignete Lagen. Das kantonale Beitragsreglement für Naturschutzleistungen baut darauf auf und ergänzt die BFF-Beiträge auf hochwertigen Flächen mit einem Naturschutzzuschlag. Bei Extensivierungen gibt es zudem eine Entschädigung für den Ertragsausfall und auf Naturschutzflächen zusätzliche Abgeltungen für ausserordentliche Aufwendungen, z.B. für die Neophytenbekämpfung oder die Heckenpflege.
Halten Sie die derzeitige finanzielle Abgeltung der BFF-Leistungen für angemessen?
In der Regel ja. BFF sind eine Leistung für die Allgemeinheit, die angemessen abgegolten werden soll. Für Flächen, die sich aufgrund der Lage, Grösse oder Topografie nicht effizient bewirtschaften lassen, kann es aber sein, dass die Abgeltung den Aufwand nicht abdeckt. Wenn nachweislich ein sehr hoher Aufwand nötig ist, leistet der Kanton bei Naturschutzgebieten einen zusätzlichen Ausgleich.
Wo sehen Sie Verbesserungspotential bei der Vergütung oder Anreizsetzung?
Wirkungsvoll wäre meines Erachtens eine stärkere Berücksichtigung der Qualität, das heisst zusätzliche, höhere Qualitätsstufen, verbunden mit Reduktionen für Flächen mit geringerer Qualität. Weil es auch wichtig ist, in welchem Zeitraum eine Verbesserung geschieht, wäre zudem ein Element interessant, das raschere Entwicklungen zusätzlich belohnt.
Wie tragen die BFF zum Erreichen der Umweltziele Landwirtschaft bei?
Der Erhalt und die Förderung der einheimischen Arten und ihrer Lebensräume ist eines von 13 Umweltzielen der Landwirtschaft. BFF und Vernetzungsflächen sind das Instrument dafür auf landwirtschaftlicher Seite und deshalb wichtig. Wirkungsmässig leisten allerdings Naturschutzgebiete und Naturschutzaufwertungsprojekte den grössten Beitrag für den Erhalt der Biodiversität.
Wo gibt es Schwierigkeiten beim Erreichen dieser Umweltziele? Woran liegt das konkret?
Schweizweit wurde bisher keines der Umweltziele vollständig erreicht. Als übergeordnete Herausforderung sehe ich zum einen, dass von den Produzent/-innen über den Handel bis zu den Konsument/-innen Veränderungen nötig sind – das ist anspruchsvoll und geschieht nicht von heute auf morgen. Zudem ist der Verbrauch von Umweltressourcen heute weitgehend gratis und hat darum zu wenig Gewicht. Das soll uns alle aber nicht davon abhalten, dort zu handeln, wo wir es hier und heute tun können.
Sind die gesetzten Ziele realistisch und erreichbar, oder sollten sie angepasst werden?
Die Umweltziele weisen aus, was nötig ist, damit wir eine funktionierende Natur und eine intakte Umwelt auch für künftige Generationen erhalten können. Es ist in unserem eigenen Interesse, dass wir daran festhalten und auf ihre Erreichung hinarbeiten. Denn sonst setzen wir unsere eigene Zukunft aufs Spiel.
Gibt es Beispiele, bei denen Biodiversitätsförderflächen aufgrund unbefriedigender Ergebnisse verändert oder zurückgezogen wurden?
Die Landwirtinnen und Landwirte entscheiden selbst, welche Flächen sie als BFF anlegen. Sie können sie nach Ablauf der Verpflichtungsdauer von acht Jahren auch wieder aufgeben. Das kommt durchaus vor, insgesamt beobachten wir aber eine hohe Konstanz. BFF, die in Naturschutzgebieten liegen, werden aufgrund ökologischer Kriterien ausgewiesen, dort gibt es keinen Bedarf für eine Aufhebung.
Wie werden Erfahrungen und Forschungsergebnisse in die Weiterentwicklung der Programme integriert?
Der Kanton betreibt systematische Erfolgskontrollen in seinen Projekten und Aktivitäten. Wir stehen zudem in ständigem Dialog mit der Wissenschaft. Auch sind unsere Naturschutzbeauftragten im Kontakt mit den Bewirtschafterinnen und Bewirtschaftern von Naturschutzflächen und tauschen sich zu Erfahrungen aus. Neue Erkenntnisse aus der Forschung und praktische Erfahrungen fliessen so laufend in unsere Arbeit ein.
Verzögertes Artensterben
Obwohl der Lebensraum vieler Arten im Kanton Zürich in den letzten Jahrzehnten fast verschwunden ist, sind erstaunlich viele dieser Arten noch da. Der Grund ist das verzögerte Aussterben: Langlebige Pflanzen können eine ganze Weile überleben, auch wenn ihr Lebensraum eingeschränkt ist. Tierarten überleben eine Zeit lang geschwächt, können sich aber nicht mehr genügend vermehren und sterben mit Verzögerung aus. Das wird als Aussterbeschuld bezeichnet. Wenn wir nur die heutige Artenvielfalt betrachten, überschätzen wir den Zustand der Natur also. Oder anders gesagt: Um die heutige Artenvielfalt zu erhalten, braucht es Massnahmen, die rasch Wirkung zeigen.