Biodiversität – kein Selbstzweck
Das Wichtigste in Kürze
- Artenvielfalt unter Druck:
Zwei Drittel vom Aussterben bedroht, Gründe sind komplex - Biodiversitätsförderflächen (BFF):
Ökologische Ausgleichsflächen in der Landwirtschaft - Zwei mögliche Qualitätsstufen für BFF:
Bundesbeiträge jährlich mehrere Millionen Franken; 16 Prozent aller Direktzahlungen - Vernetzungsflächen:
Verbinden wertvolle Lebensräume und fördern genetische Durchmischung
Artenreiche Blumenwiesen, schützende Hecken oder alte Obstgärten mit Hochstammbäumen – dies sind Beispiele für wertvolle Lebensräume: Sie bieten Rückzugsorte, in denen verschiedenste einheimische Pflanzen und Tiere aufblühen können. Doch diese Artenvielfalt – die Biodiversität – steht in der Schweiz stark unter Druck: Rund ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten hierzulande gilt gemäss Bundesamt für Umwelt (BAFU) heute als vom Aussterben bedroht oder bereits ausgestorben. Und auch etwa die Hälfte der Lebensraum-Typen in der Schweiz sind bedroht.
Doch es ist klar, dass heute viele Arten nicht mehr existieren – die Welt hat sich in kurzer Zeit grundlegend verändert, der Mensch hat sich ausgebreitet und vielen Tieren und Pflanzen den Platz genommen:
1925 lebten rund vier Millionen Menschen in der Schweiz, heute sind es etwa neun Millionen. Dadurch sind unsere Städte gewachsen: Während vor 100 Jahren noch rund ein Drittel der Bevölkerung in urbanen Gebieten lebte, sind es heute schon drei Viertel. Die Siedlungsfläche hierzulande hat sich seit dem Ersten Weltkrieg versechsfacht und seit 1950 mehr als verdoppelt. Und der Verkehr? 1925 waren Autos eine Seltenheit, heute fahren täglich Millionen von Fahrzeugen auf Schweizer Strassen. Auch intensive Landnutzung und der Einsatz von Pestiziden sind Gründe für den Rückgang der Artenvielfalt.
Doch man muss sich fragen: Ist es sinnvoll, Arten zu erhalten, die einst unter völlig anderen klimatischen und ökologischen Bedingungen lebten? Gewisse Arten verschwinden, andere passen sich an die veränderte Umwelt an und setzen sich durch. Gerade in Zeiten des Klimawandels überleben meist jene Arten, die mit den neuen Bedingungen am besten zurechtkommen. Ist es also zielführend, Lebensräume künstlich zu rekonstruieren, um bestimmte Arten zu fördern oder greifen wir damit in einen Anpassungsprozess ein?
Eine hohe genetische Vielfalt ist kein Selbstzweck, sondern das Fundament für widerstandsfähige und funktionierende Ökosysteme. Die entscheidende Frage ist also nicht, ob sich die Natur verändern darf – das tut sie ohnehin -, sondern, wie wir mit diesen Veränderungen umgehen und wie wir Biodiversität dort schützen, wo sie besonders wichtig ist: Dort, wo wichtige Naturleistungen wie Bestäubung oder Schädlingsbekämpfung durch das Artensterben ebenfalls potentiell gefährdet sind.
Biodiversitätsförderflächen für mehr Artenvielfalt
Um das Aussterben der Arten zu stoppen, führte die Schweiz 1993 ökologische Ausgleichsflächen ein, die heute als „Biodiversitätsförderflächen“ (BFF) bekannt und Bestandteil des Ökologischen Leistungsnachweises (ÖLN) sind. Bauernfamilien müssen den ÖLN erfüllen, um Direktzahlungen vom Bund zu erhalten. Dieser gibt unter anderem vor, dass auf mindestens sieben Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche BFF angelegt werden müssen.
BFF sind speziell bewirtschaftete oder geschützte Landflächen, die gezielt zur Erhaltung und Förderung der biologischen Vielfalt beitragen, indem sie Lebensräume für wildlebende Pflanzen und Tiere bieten.
Landwirte und Landwirtinnen können aus einer Vielzahl von BFF-Typen und je nach Typ, zwischen zwei Qualitätsstufen auswählen: Qualitätsstufe I erfordert, dass Flächen mindestens acht Jahre lang naturnah bewirtschaftet werden, ohne den Einsatz von Pestiziden und intensiver Düngung. Auch flächige Umbrucharbeiten oder intensive Eingriffe sind tabu, zu den Mähzeitpunkten der verschiedenen Flächen und vielen anderen Aspekten der Flächennutzung gibt es konkrete Auflagen. Bei Hecken muss auf beiden Seiten eine drei bis sechs Meter breite Grünfläche stehen. Auf Rebflächen soll das Gras nicht überall gleichzeitig gemäht werden, stattdessen soll man nur jede zweite Gasse zwischen den Reben mähen – und frühestens sechs Wochen später die anderen.
BFF der Qualitätsstufe II unterliegen darüber hinaus strengeren Vorgaben bezüglich der floristischen Qualität sowie der Erhaltung biodiversitätsfördernder Strukturen, wie etwa Steinhaufen und Sträuchern. „Wer eine Wiese der Qualitätsstufe II will, muss zunächst einen südexponierten Standort definieren – mit leichtem Boden mit viel Kies darunter”, erklärt Agronom Andreas Buri im Podcast.
Die bisherige Evaluierung durch das Monitoringprogramm ALL-EMA hat belegt, dass auf Biodiversitätsförderflächen (BFF) eine deutlich höhere Vielfalt an Arten und Lebensräumen anzutreffen ist als auf anderen landwirtschaftlich genutzten Flächen. Zudem stellt das Monitoringprogramm fest, dass die BFF der Qualitätsstufe II in der Regel eine grössere Artenvielfalt und ausgeprägtere Lebensraumstrukturen aufweisen als jene der Qualitätsstufe I. Den grössten Beitrag für den Erhalt der Biodiversität würden aber nicht Biodiversitätsförderflächen leisten, sondern Naturschutzgebiete und Naturschutzaufwertungsprojekte, sagt Ursina Wiedmer, Leiterin der Fachstelle Naturschutz, im Interview.
Bundesbeiträge und Stellenwert für Bauern
Für die Anlage und die fortdauernde Pflege der Biodiversitätsförderflächen erhalten Bäuerinnen und Bauern finanzielle Anreize in Form von Biodiversitätsbeiträgen. Diese Direktzahlungen des Bundes betragen pro Jahr mehrere hundert Millionen Franken – einem einzelnen Landwirtschaftsbetrieb spülen sie jährlich immerhin einige tausend oder zehntausend Franken in die Kasse. Der Anteil der Biodiversitätsbeiträge an der Gesamtsumme der Direktzahlungen beträgt rund 16 Prozent. Ob die Arbeit der Landwirtinnen und Landwirte für die Feldpflege fair entlöhnt wird, ist umstritten.
Alle paar Jahre überprüfen Fachpersonen die Flächen auf die Einhaltung der Anforderungen. Der Kontrolleur oder die Kontrolleurin stellt zudem fest, ob es noch genügend wertvolle Arten hat, die die Biodiversitätsbeitrage des Bundes rechtfertigen.
Doch: „Der Auftrag des Bauern ist es in erster Linie, Nahrungsmittel zu produzieren: Milch, Kartoffeln, Getreide, Rapsöl - was auch immer”, sagt Andreas Buri. Wenn Zusatzansprüche wie eben Biodiversitätsförderflächen kämen, seien die meisten Bauern offen dafür, aber „es ist nicht oberste Priorität für uns”, so Buri - vor allem flächenmässig müsse es in einem für den Betrieb verträglichen Rahmen sein, da die Bauern schlussendlich von der Nahrungsmittelproduktion leben. Auch reduzieren die verschiedene Auflagen den Handlungsspielraum der Landwirtinnen und Landwirte und schränken ihre Möglichkeiten ein, kurzfristig auf externe Einflüsse wie Wetterereignisse oder Marktveränderungen zu reagieren. Trotzdem nimmt die Anzahl an Biodiversitätsförderflächen laufend zu: Derzeit machen sie rund 20 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Schweiz aus, wobei der Anteil in Bergzonen höher ist als im Tal.
Nutzen von Vernetzungsflächen
Neben Biodiversitätsbeitragen erhalten manche Betriebe auch Vernetzungsbeiträge, wenn die entspreche Fläche Teil eines anerkannten Vernetzungsprojekts ist. Hierzulande gibt es Vernetzungsprojekte seit dem Jahr 2001. Doch was sind Vernetzungsflächen? Auch diese Flächen haben zum Ziel, die einheimische Artenvielfalt zu erhalten und zu fördern. Doch darüber hinaus verbinden Vernetzungsflächen wertvolle Lebensräume, wodurch die genetische Durchmischung zwischen verschiedenen Populationen verbessert wird.
Nur so sind Ökosysteme langfristig stabil, denn: „Es mag auf einer isolierten Fläche viele verschiedene Arten haben, doch diese vermehren sich untereinander und können sich so genetisch nicht mit anderen Populationen vermischen, sodass sie aussterben“, erklärt Andreas Buri im Podcast. Mit Vernetzungsflächen jedoch, etwa entlang einem Bachlauf oder einer Bahnlinie, können Wildtiere von der einen Fläche auf die anderen wandern und die Vermehrung findet zwischen unterschiedlichen Populationen statt. Auch Übergangsflächen zwischen landwirtschaftlichen Nutzflächen und Gewässern, Wäldern oder Hecken können als Vernetzungsflächen fungieren und gezielt zur Förderung bedrohter Arten beitragen.
Ausblick und Prognose
Ein Grossteil der rund 48‘000 registrierten Schweizer Landwirtschaftsbetriebe beteiligt sich durch die Bewirtschaftung von BFF aktiv an der Förderung der Biodiversität in der Schweiz: Im Jahr 2020 hatten über 38‘000 Betriebe BFF der Qualitätsstufe I. Auch die Anzahl Betriebe mit Flächen der Qualitätsstufe II und Vernetzungsflächen bewegt sich im fünfstelligen Bereich.
Doch um die Biodiversität im Landwirtschaftsgebiet zu erhalten, brauche es mehr, sagt Ursina Wiedmer von der Fachstelle Naturschutz: „Die Wiederherstellung artenreicher Lebensräume dauert sehr lang – Extensivierung allein reicht oft nicht aus. Oft sind BFF nicht an ökologisch geeigneten Lagen, wenn für den Landwirt oder die Landwirtin eher betriebliche Überlegungen im Vordergrund stehen.“ Sehr wichtig wäre laut Wiedmer die Wiederherstellung von Feuchtgebieten, da diese nicht nur für die Artenvielfalt, sondern auch den Hochwasserrückhalt zentral seien.
Dieses Jahr startet die Dritterhebung von ALL-EMA (2025–2029). Dabei wird auch die Wirkung biodiversitätsfördernder Direktzahlungen anhand einer Trendanalyse untersucht. Die kontinuierlichen Erhebungen von ALL-EMA sind entscheidend, um den Zustand und die Entwicklung der Biodiversität in der Schweizer Agrarlandschaft auch künftig verlässlich beurteilen zu können – insbesondere im Zusammenspiel mit sich verändernden Umweltbedingungen und agrarpolitischen Massnahmen.